Knut Hacker |
Verfasst am: 04. Jan 2011 17:21 Titel: Alt- und neugriechische Melancholie |
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Alt-und neugriechische Melancholie Wer einmal das Alltagsleben der Griechen kennengelernt hat, dem wird klar, dass die Tragödie nur in diesem Volk mit seiner wohl einzigartigen Gefühlstiefe entstanden sein konnte. Ihre „Lieblingsstimmung“ bezeichnen die heutigen Griechen als καϋμός, das „Brennen“, das verzehrt und zugleich Licht bringt. Diese Stimmung kann nur unzureichend mit dem griechischen Kunstwort „Melancholie“ ( „Schwarzgalligkeit“), gleichbedeutend mit Schwermut, übersetzt werden, denn der Grieche leidet nicht an seiner Grundstimmungslage. Diese kommt vor allem in der griechischen Musik zum Ausdruck. Nicht von ungefähr heißt das Lied im Neugriechischen „τραγοῦδι(ον)“ = „Tragödchen“. Hier einige Beispiele: [url] http://www.youtube.com/watch?v=Yyk-OJtd6zU&feature=related [/url] [url] http://www.youtube.com/watch?v=XgzPOyWEVK4 [/url] [url] http://www.youtube.com/watch?v=lCjdP2mjmeI&feature=related [/url] [url] http://www.youtube.com/watch?v=rC63Kvh-tlo&feature=related [/url] Herzzerreißend sind insbesondere die μοιρολόγια, ἐπιτραπέζια, κλέφτικα, ντόινες und ἀμανέδες. Als Wasilis Tsitsanis 1949 seinen Ζεϊμπέκικος “Συννεφιασμένη Κυριακή” herausbrachte, kam es auf dem gesamten Balkan und im Vorderen Orient zu einer Selbstmordwelle ( Ioannis Zelepos, Rebetiko S.84; Watzlawick, Vom Schlechten des Guten, S. 108 ). Diese Grundstimmung herrschte offensichtlich bereits bei den alten Griechen, ist also nicht erst aufgrund historischer Verknüpfungen mit dem Orient (angefangen vom Indienfeldzug Alexanders des Großen über das tausendjähriges Byzantinische Reich bis zur fünfhundertjährigen osmanischen Besetzung; die Verwandtschaft der griechischen Musik mit der arabischen, südbalkanesischen, türkischen, persischen, kaukasischen und indischen ist unüberhörbar) und dem Slawentum übernommen wurden. Schon Aristoteles ( Problémata, 30,1, p.953 a 10) schrieb: ¨ πάντες ὅσοι περιττοὶ γεγόνασιν ἄνδρες, ἢ κατὰ φιλοσοφίαν, ἢ πολιτικήν, ἢ ποίησιν, ἢ τέχνας, φαίνονται μελαγχολικοὶ ὄντες¨ - „Alle Menschen, die sich ausgezeichnet haben, sei es in der Philosophie, in der Politik, in der Dichtkunst oder in den bildenden Künsten, scheinen melancholisch zu sein.“ (Aristoteles, Problémata, 30,1, p.953 a 10) Auch insbesondere die folgenden altegriechischen Zitate belegen die Tradition griechischer Melancholie Der Waldgott Seilenós gegenüber dem phrygischen König Midas: „Elendes Eintagsgeschlecht der Mühsal und der Not, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich ersprießlicher ist. Denn in Unkenntnis des eigenen Elends verstreicht das Leben am leidlosesten. Das Allerbeste nämlich ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich, nachdem du einmal geboren bist, möglichst bald zu sterben.“( Aristoteles, Eudemos, Fr 44 Rose; Cicero , Gespräche in Tusculum, 1.Buch,114f ) Theognis ( 495?-428 v.Chr..): „ Πάντων μὲν μὴ φῦναι ἐπιχθονίοισιν ἄριστον μηδ' ἐσιδεῖν αὐγὰς ὀξέος ἠελίου φύντα δ' ὅπως ὤκιστα πύλας Ἅιδαο περῆσαι καὶ κεῖσθαι πολλὴν γῆν ἐπαμησάμενον.¨ „Von allem ist, nicht geboren zu werden, für die Erdbewohner am besten, und nicht zu erblicken die Strahlen der hellen Sonne, geboren aber möglichst schnell die Pforten des Hades zu erreichen, und im Grab zu liegen, nachdem man viel Erde auf sich gehäuft hat.“ Sophokles (497/96-468 v.Chr.; Ödipus auf Kolonós, V. 1224 ff): „μὴ φῦναι τὸν ἅπαντα νι- κᾷ λόγον · τὸ δ' , ἐπεὶ φανῇ, βῆναι κεῖσ' ὁπόθεν περ ἥ- κει πολὺ δεύτερον ὡς τάχιστα .” „Nicht geboren zu sein, das geht über alles; doch, wenn du lebst, ist das zweite, so schnell du kannst, hinzugelangen, wo du kamest“ Euripides (ca.480-406 v.Chr.; Cresphontes; bei Plutarch in : De audiendis poetis, cap. 14, p. 36 f. ) : „Τόν δ' αὖ θάνοντα καὶ πόνων πεπαύμενον Χαίροντας εὐφήμοντας ἐκπέμπειν δόμων.” „Geborene zu beklagen, weil viel Schlimmem sie/ entgegengehen, aber die Gestorbenen /mit Freude zu geleiten und mit Segnungen,/ weil sie so vielen Leiden jetzt entronnen sind“ Aischylos (525-456 v.Chr.; Stob. Anth. IV 53.17 – Hense V. 1102 ): „Ζοῆς πονηρᾶς θάνατος αἱρετώτερος · τὸ μὴ γενέσθαι δ' ἐστὶν ἢ πεφυκέναι κρεῖσσον κακῶς πάσχοντα.” „Mühseligem Leben vorzuziehen ist der Tod Und nicht geboren besser als geboren sein Zu schlimmer Not und Qual.“ Bakchylides (505-450 v.Chr.): „...θνάτοισι μὴ φῦναι φέριστον μηδ' ἀελίου προσιδεῖν φέγγος.” „Für die Sterblichen ist, nicht geboren zu werden, das Beste und nicht der Sonne Licht zu schauen.“ Empedokles ( 483 – 424 v.Chr.): „οἴμοι ὅτι οὐ πρόσθεν με διώλεσε νηλεὲς ἦμαρ” „Weh´ mir, dass mich nicht früher vernichtete der unentrinnbare Tag!“ ( Porphyr. De abst. II 31 ) Herodot (490/80-ca.424 v.Chr.): „ Διέδεξέ τε ἐν τούτοισι ὁ θεός, ὡς ἄμεινον εἴη ἀνθρώπῳ τεθνάναι ἢ ζῆν.” „Es zeigte an diesen der Gott, dass es besser sei für einen Menschen, tot zu sein, statt zu leben“ Herodot berichtete von der Sitte der Thraker, einen Neugeborenen mit Wehklagen zu begrüßen und ihm die zu erwartenden Übel zu erzählen, die Toten aber mit Freude und Scherz zu bestatten, weil sie das große Labyrinth der Leiden hinter sich hätten. Diogenes ( ca. 391/90 – 323 v. Chr. ) : „Wenn Du es richtig überlegst, so müsstest Du den Neugeborenen beklagen, denn ihm steht viel Ungemach bevor, doch wer, erlöst vom Schmerz, begraben wird, den preise selig und sei froh.“ ( Max. Conf. 36, 20 = G. 296 ) Heraklit ( 544 – 483 v.Chr.): ¨ Ἡράκλειτος γοῦν κακίζων φαίνεται τὴν γένεσιν, ἐπειδὰν φῆι· γενόμενοι ζώειν ἐθέλουσι μόρους τ' ἔχειν, μᾶλλον δὲ ἀναπαύεσθαι, καὶ παῖδες καταλείπουσιν μόρους γενέσθαι.¨ “ Heraklit scheint die Geburt als ein Unglück zu betrachten, wenn er sagt: Wann sie geboren sind, haben sie Willen, zu leben und dadurch ihr Todeslos zu haben – oder vielmehr auszuruhen –, und sie hinterlassen Kinder, dass wieder Todeslose entstehen.“ ( Clem. Strom. III 14; II 201, 23 ) Epikur (341-271/70 v.Chr.) spricht vom „tödlichen Gift des Geborenseins “( „θανάσιμον...τὸ τῆς γενέσεως φάρμακον”) |
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